Tigermenschen

Zur Tigerwandlung der Khasi in Nordostindien

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Kurztext

Seit 1992 arbeitet Thomas Kaiser zusammen mit den Bewohnern von sieben Dörfern des Khasistammes in Nordostindien an einem künstlerisch/ökologischen Projekt: der Wiederaufforstung eines vor dreissig Jahren zerstörten heiligen Waldes und der Dokumentation mythologischer Vorstellungen, die diese Wälder umranken.

Die heiligen Wälder der Khasi bilden heute letzte Inseln einer einst üppig reichen Vegetation im wolkenverhangenen Bergland Meghalayas. Die Khasi selbst betrachten diese Wälder als Wohnsitz von U Ryngkew, einem göttlichen Geist, der sich den Menschen als Tiger zeigt, und der als Verkörperung von Glück und Wohlstand der Dörfer gilt, die einen heiligen Wald umgeben.

Im Verlaufe ihrer Arbeit stiessen der Herausgeber und seine Freunde auf "Tigermenschen" - Männer und Frauen, die sich zu gewissen Zeiten in Tiger verwandeln und als Vertreter ihrer Klans den Tigern U Ryngkews begegnen: den Tigern des Waldes. Menschentiger und Geistertiger, spielen und raufen miteinander, sie lieben und bekriegen sich und sitzen gemeinsam im "Tigerrat" zu einer archaischen Begegnung von Mensch und Tier - Kultur und Natur.

Die Ausstellung TIGERMENSCHEN präsentiert die vorläufigen Ergebnisse dieser Arbeit in Serien von Videostills und Textausschnitten aus den Gesprächen mit den Tigermenschen der Khasiberge Nordostindiens.

Zur Ausstellung erscheint ein Buch, in welchem diese Gespräche ausführlich dokumentiert werden:

TIGERMENSCHEN
Texte zur Tigerwandlung der Khasi Nordostindiens
Herausgegeben von Thomas Kaiser
Mit einem Vorwort von Michael Oppitz
136 Seiten; Fr. 20.–

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Zitate aus den Gesprächen mit Tigermenschen

Früher gab es Leute, die sich körperlich in Tiger verwandeln konnten. Aber das ist heute nicht mehr möglich. Die Menschen sind nicht mehr so aufrichtig, wie sie es früher waren. Heutzutage verwandeln sie sich nur in der Seele. Es ist wie ein Traum. Und im Traum gelangt man in die Welt des Traums. Dort ist es, als wären wir unter Menschen. Die körperliche Verwandlung zum Tiger war einst möglich, und die Kraft vererbte sich bei jenen, die zu den Tigergeistern hielten, zu den Baum- und Bambusgeistern; sie vererbte sich bei jenen, die das Können und das Bildnis bewahrten seit jener Zeit, als das Gewand verliehen wurde, der Turban, die Betelnuss, das Blatt und die Religion und Sitten, so wie es sich gehörte. Die Wandlung kannte viele Arten.

***

Wenn du im Dschungel unterwegs bist, wenn du auf der Jagd bist mit einem Gewehr und du hörst das Gebrüll eines Tigers: schau zu, dass du wegkommst. Treib dich nicht länger an dem Ort herum, sonst stirbst du! Der brüllende Tiger ist nämlich der Menschentiger, der dich warnt, damit du fliehen kannst: "Dort!" Der brüllende Tiger ist dein Beschützer!

Wenn du im Dschungel unterwegs bist auf Jagd oder aus irgend einem anderen Grund - der Menschentiger weiss Bescheid. Die Tigerfreunde des Waldes sagen: "Den packen wir!" - "Nein, das ist ein Freund!" - "Dann los, BRÜLL IHN AN, damit er verschwindet!" Er brüllt, und der Mann geht weg. Dieser Tiger ist nur ein Mensch!

***

Einmal jagten mich die Männer von Umwang. Zweimal jagten sie mich. Als sie kamen, versuchten sie, mich in die Enge zu treiben. Was tat ich also? Ich sass ganz still auf einem Felsen. Sie hatten auch ein bisschen Angst; sie kennen den Tiger. Sie waren mit Stöcken bewaffnet und mit Trommeln. Und wie sie gingen: khrum khrum khrum khrum gingen sie. Sie suchten. Zweimal jagten sie mich. Das andere Mal sass ich still in einer Höhle. Auu! Wie gut sie jagten! Sie jagten khrak khrak khrak... Dort kamen sie, mit Trommeln, mit zwei Trommeln, Netzen...

Keine Gewehre?

Keine Gewehre! Nur Speere. Da ist der Tiger. Kommt von da... Sie versuchen, ihn ins Netz zu treiben. Sie stechen nach ihm. Der Schwanz bleibt draussen. Der Körper liegt im Netz. Machen sie einen Fehler, dann hebt er den Schwanz... Das Netz - blak! Und er kommt frei - bloit! Und der Tiger läuft pher-pher, pher-pher... "Fangt den Geistertiger, ho! Fangt den Menschentiger, ho!"

***

Wie fühlt sich euer Körper an im Moment der Verwandlung?

Es fühlt sich an, als würde es kalt. Es fühlt sich an wie ein Schweissausbruch. Und dann kommt es.

Was passiert in dem Moment, wo ihr euch in Tiger verwandelt, mit eurem Körper?

Der bleibt so, wie er ist. Nur der Schatten ist dort. Der Mensch bleibt hier. Die Person ist hier, doch der Schatten ist dort. Der Körper teilt sich; der Körper bleibt im Haus, aber die Seele geht hinüber. Die Person im Haus kann nicht arbeiten; sie kann überhaupt nichts tun.
Es geschieht im Schlaf. Es geschieht bei Tage. Es geschieht während der Arbeit, oder wenn wir irgendwo unterwegs sind. Wir müssen die Arbeit liegen lassen und uns hinsetzen. Im Haus, im Reisfeld, in der Hütte im Reisfeld. Und wenn wir uns hinsetzen, überkommt uns grosse Müdigkeit. Dann kommt das Brüllen. Nach dem Brüllen verschwindet die Seele.
Dann kommt der Durst. Und wenn wir nicht gleich zu trinken bekommen, sterben wir. Drei, vier, fünf Kessel voll. Nach dem Trinken geht die Seele. "Hört zu, Kinder - ich bin hier, aber mein Herz ist gegangen." Das muss ich sagen, damit sie Bescheid wissen und mich nicht wecken. "Ich bin gegangen. Wartet, bis sie mich wieder freigeben. Ich werde wieder stark sein." Wenn man nicht Bescheid sagt, fangen sie an, sich Gedanken zu machen. Einer sagt: "Ihm ist schwindlig." Einer sagt vielleicht: "Er ist faul!" Und noch ein anderer sagt: "Er hat sich erkältet."

***

Ich habe die Gewänder bekommen, weil ich an dieser Religion festhalte. Im Traum kommt ein alter Mann, der uns die Gewänder gibt, sobald wir schlafen. Er führt uns hinüber. Und wenn wir angekommen sind, befiehlt er uns, diese Kleider auszuziehen. Alle unsere Kleider müssen wir ablegen. Und er sagt: "Nehmt diese Gewänder, die ich euch gebe. Die äussere Kleidung habt ihr mir gegeben." Das bedeutet, dass ich gelernt habe, den Traum der Tigerwandlung zu träumen. Es ist nicht unser Fell. Das Fell gehört dem geliebten Vater.
Im Traum ist es wie unter Menschen. Roten Tigern gibt er ein rotes Gewand, ein weisses Gewand den weissen Tigern und schwarze Gewänder den schwarzen. In einer nächsten Nacht, wenn wir wieder schlafen, fragt er: "Wie geht es euch? Habt ihr die Gewänder genommen? Die Decke, das Schwert, die Pfeile - habt ihr das alles genommen?" - "Oh ja..."

Wie könnt ihr als Tiger Pfeile tragen?

Die Zähne, Klauen und Barthaare sind die Waffen - wie Schwerter und Pfeile. Alles vom Schwanz bis zum Kopf mit Augen und Ohren - sobald wir gekleidet sind, kommt alles zusammen. Auch seine Kraft kommt. Wenn er im Traum, an jenem Ort, fragt: "Habt ihr alles genommen?" antworten wir: "Ja, das haben wir." Und er sagt nur: "Tut nichts Böses, sonst stecke ich euch ins Gefängnis."

***

Wir gehen auf einer Strasse, auf einer einzigen Strasse! Man muss genau in die Abdrücke des Vorangehenden treten. Der Grosse Tiger mit den grossen Pranken geht voran, und jene, die ihm folgen - sie gehen hinter ihm. Dann sagen sie: "Oh dieser Mann hinterlässt kleine Fussabdrücke!" Wenn er vorangeht, folgt ihm ein Grosser. Ein kleiner Fehler und du wirst verprügelt. Du wirst gefesselt, eingesperrt und gerichtet und gebüsst. Wenn sie dich freilassen, bist du frei. Wenn sie dich nicht freilassen, halten sie dich vielleicht monatelang gefangen. Du sagst: "Gebt mir zu essen!" Sie geben nichts. Sie geben bloss Wasser. Man trinkt nur Wasser, tagaus, tagein. Der Mann drüben leidet und verzehrt sich - die Welt existiert nicht mehr, bis du freigesprochen und freigelassen wirst. Dann geben sie dir Reis, und du wirst stärker, stärker, stärker, und die Seele kommt zurück. Sie bleibt nicht länger dort.

***

Wenn ihr euch beide als Tiger begegnet - erkennt ihr euch da gegenseitig?

Ja. Warum denn nicht! Wir erkennen einander. Wir erkennen uns, wie wenn wir hier gehen, wenn wir als Freunde gehen. Drüben, im Schatten, begegnen wir uns, weil wir unsere eigene Seele kennen und auch die unserer Gefährten. Wir wissen Bescheid, denn unsere Wahrnehmung ist die eines Menschen. Es ist genau wie hier, wenn wir einem anderen Menschen begegnen. Es ist nicht der Tiger!

Wenn ihr euch begegnet, seht ihr euch als Menschen? Wie sprecht ihr mit einander?

Wir sprechen und sagen vielleicht: "Ich bin der und der von da und da." Und ich sage auch, wer aus meinem Dorf noch bei mir ist.

Das heisst, ihr benützt Menschensprache?

Menschensprache - auch dort drüben: "Oh Onkel, oh Vater - bist du da?" - "Oi!" - "Fremde sind gekommen! Beschütze das Dorf, den Bezirk! Fremde sind gekommen! Achtet darauf, dass sie keinen Unfug treiben mit den Kühen, den Ziegen. Sie könnten Unheil bringen jenen, die ihr hütet, jenen, die ihr züchtet! Ihr müsst euch schützen und achtsam sein!" Das ist es, was man zu sagen hat.

***

Lass mich von meinen Erlebnissen dort erzählen. Zuerst brachten sie mir das Autofahren bei. Sie gaben mir ein Auto. Sie geben einem zwei Monate Zeit, um fahren zu lernen. Sind die zwei Monate um und man kann's noch immer nicht, stürzen sie das Auto in eine Höhle. Fertig. Und wenn ich das Auto beherrsche, geben sie mir ein Fahrrad. Sie geben mir ein Motorrad. Und die Strassen! Daindain! Angenommen, man gäbe mir hier einen Wagen - ob ich wohl fahren könnte? Wie kommt's wohl, dass ich drüben, im Schatten, so gut fahre?

***

Ich habe noch keine Frau. Dass ich noch keine Frau habe, ist meine eigene Schuld. Da war dieses junge Mädchen, eine Freundin, in der Tigerwelt, wisst ihr... Eine wirkliche Tigerin! "He Schwester! Ich möchte dir etwas sagen..." Sie trug eine goldene Halskette. "He Schwester, was ich dir sagen möchte..." Sie hatte was von einer Nutte. Hatte sich sehr dicht zu mir hergesetzt. "Ich möchte dich heiraten! Hei Schwester, ich will sagen..." Und sie: "Oi!" sagte sie, "geh du zuerst ins Haus!" Und als meine Hand anfing zu wandern, packte sie mich! Ich weiss nicht, ob sie fest oder nicht so fest zupackte, denn sie war eine Frau und schlau. BLUP! Sie riss! Die goldene Halskette. Drei Monate lang kam ich dafür ins Gefängnis! Das ist die Wahrheit!

Heisst das, ihr verliebt euch dort genauso wie hier?

Genau so. Wie hier!

Wie liebt ihr euch? Umarmt ihr euch?

Genau so wie hier. Nur dass es dort viel schöner ist als hier, unter Menschen!

***

Ber und du - ihr verwandelt euch in Tiger. Ber wird eine Tigerin, du wirst ein Tiger. Wenn eure Kinder geboren werden - sind es Menschen oder Tiger?

Tigerkinder. Nur Tigerkinder! Doch meine Kinder hier sind Menschenkinder.

Wenn deine Tigerfrau entbindet, tut sie das zu Hause, als Mensch?

Nein. Sie entbindet im Dschungel. Tigerkinder. Hier sagst du "Tigerkinder". Aber dort sagen wir "Menschenkinder".

Und diese Tigerkinder - können sie sich in Menschen verwandeln?

NEIN - ouuu! Sie kommen nicht hierher! Sie bleiben im Dschungel. Aber sie kennen Mutter und Vater. Wenn du in den Wald gehst - du siehst nichts. Aber sie sehen uns: "Oh, Vater kommt! Wir wollen nicht mit ihm sprechen!" Sie schauen bloss, mit ihren Augen.

Sind eure Tigerkinder nicht böse auf euch?

Nein, das sind sie nicht.

Wenn dein Sohn dort gross wird - fällt er dich nicht an?

Nein, das tut er nicht, denn er kennt seinen Vater. Er kennt ihn und respektiert ihn. Den Vater, die Mutter. Er weiss Bescheid.

***

Das Essen, das sie uns im Laufe eines Jahres geben! Gras einen Monat lang, einen Monat lang Fleisch, einen Monat lang Erde, einen Monat lang Luft. Und wenn du Luft isst, geht die Welt zuende. Du wirst dünn. Einen Monat lang Luft, und du bist erledigt. Vor dem Ende kommt das Essen von Luft. Das Schwere an diesem Tigersein ist das Essen von Luft... Sie hängen dich auf mit weit offenem Maul. Keine Nahrung, kein Fleisch. Du wirst dünn.

Und das Essen von Erde?

Einen ganzen Monat lang essen wir Erde. Auch Fleisch geben sie einen Monat lang. Auch Gras - einen ganzen Monat lang. So ist es in diesem Tigersein. Gras füllt dich, Fleisch füllt dich, Erde füllt dich - nur die Luft... Wenn du einen Monat lang Luft isst, wirst du dünn. Du bestehst nur noch aus Knochen.

Nur Luft. Wie soll davon einer satt werden!

Weeee! Welches Leid! Gras habe ich gegessen, Fleisch habe ich gegessen, Erde habe ich gegessen, Luft habe ich gegessen. Dieses Essen von Luft... Man kann nicht mehr gehen, kann nicht arbeiten, man wird bloss dünn. Man kann das Haus nicht mehr verlassen, die Gelenke sind schwach. Oh dieses Essen von Luft!

***

Tötet ihr auch Menschen?

Ja, das tun wir.

Bitte?!

Wir essen! Unsere Freunde, die Tiger des Waldes, verlangen es. Wir können nicht anders, sonst beissen oder schlagen sie uns. Hört zu! Da ist dieser Mann oder diese Frau. Wir müssen von dem Fleisch essen! Das ist die Wahrheit. Und da sind sechs oder sieben meiner Freunde, ich meine Tigerfreunde im Schatten, im Traum - was sollen wir tun? Jagen wir denn mitten in der Nacht? Wir nehmen das Fleisch an, genauso wie wir's hier tun, unter Menschen.

Dising, ist das wahr? Hast du selbst Menschen gefressen?

Es ist wahr.

Hast du selbst Menschen gefressen?

Ich habe meine Erfahrungen.

Hast du Menschen gefressen?!

Das habe ich.

Viele?

Nicht viele. Zwei. Sobald diese Menschen tot sind, hast du nichts mehr mit ihnen zu tun. Die Tigerfreunde arbeiten. Du fällst sie nur an und tötest sie. Aber das Schlachten und zerteilen... das besorgen die Freunde. Die Tigerbrüder. Sie verteilen das Fleisch an die Tiger des Bezirks. An alle Tiger in ihrem Gebiet. Das Fleisch kommt auch in dein Haus, auch in sein Haus und in meines. "Goldenes Fleisch" nennen sie's.

***

Welches ist der Grund für die Tigerwandlung?

Es ist der Griff, der Halt.

Was für ein Halt?

Halt in der Religion!

"Zu hüten und schützen. Sippe und Klan.
Das Wesen des Hauses, das Wesen des Haushalts.
Blatt und Laub. Ranke und Bambus.
Der Priester, Darbringer von Opfern.
Durststillende Quelle, heilige Quelle.
Altar und Opferstätte.
Religion der Menschen, Religion der Ziege.
Göttin der Priester, Göttin des Kriegs.
Seit Urzeiten, seit Zeiten der Kiefern.
Es geschah in den zwölf Ländern, den zwölf Dörfern der Priester
und kam auf uns durch die Generationen. Auf uns -
die Klans derer, die so leben, die Klans derer, die so sind, die so leben..."


***


Verwandelst du dich heutzutage immer noch?

Es ist da. Es geht nicht weg, bis ich sterbe. Was du auch tust - wenn es dich einmal erwählt hat, wenn es dich einmal gepackt hat, verschwindet es nicht mehr. Es bleibt. Nehmen wir an, ich verwerfe nun diese Götter und wechsle zu einer anderen Religion, ich bekehre mich vielleicht zu diesem Christentum. Aber er, der dich hält, lässt dich nicht los bis zum Tod.

Er kommt sogar, wenn du Christ geworden bist?

Er kommt. Unbedingt. Du bist kürzlich ein Christ geworden? Wenn du Glück hast, lebst du weiter. Wenn du kein Glück hast - dann gehst du. Das ist der harte Teil. Die Früchte Gottes, die Früchte der Gottheit - er lässt nicht zu, dass sie ohne weiteres die Religion wechseln.